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·20. März 2025
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Von der spanischen Trainerlegende Vicente del Bosque hat man ein ziemlich klares Bild: Ruhig, demütig, nie der Typ für große Zitate. Und schon gar nicht für bildhafte Lobeshymnen unter Zuhilfenahme sekundärer Geschlechtsmerkmale. Aber für Andrea Pirlo machte der schweigsame Schnauzbartträger da einst eine Ausnahme: “Pirlo ist der Busen, an dem sich ganz Italien nährt”, adelte del Bosque den Spielmacher vor dem EM-Finale 2012.
Wenige Tage zuvor hatte der damals 22-Jährige Toni Kroos - um in del Bosques Bild zu bleiben - die Aufgabe eines richtig unbequemem Sport-BH’s: Er sollte Andrea Pirlo nerven. Jogi Löw hatte ihn als Manndecker auf den besten Spieler der Squadra Azzurra angesetzt. Das allerdings ging richtig schief.
Denn auch wenn Andrea Pirlo in all seiner Lässigkeit eigentlich immer guckt, als sei er ein wenig angenervt, ließ er sich während des Spiels so gar nicht stören. Löws Plan, dass Kroos Pirlo überall hin folgen sollte, scheiterte schon daran, dass der vielleicht beste Standfußballer aller Zeiten nirgendwo hin wollte. Er hielt schlicht seine Position und schüttelte seinen Verfolger dort ab, wo er auch ganz bewegungslos immer zwei Schritte voraus war: im Kopf.
Weil Pirlo für seinen Bewacher schlicht zu handlungsschnell war, hatte Löws Manndeckungskniff nicht nur keinen wirklichen Einfluss auf die Spielgestaltung der Italiener, er lähmte auch das eigene Offensivspiel. Dadurch, dass Kroos stets bei Pirlo blieb, der sich aber weigerte, deshalb seine Position zu verlassen, war der deutsche Zehnerraum, wo ein gewisser Mesut Özil ja immer noch das Spiel gestalten sollte, komplett zugestellt. Löw musste sein Experiment nach 45 Minuten mit einer Umstellung abbrechen, Pirlo war am Ende der beste Mann auf dem Platz.
📸 PATRIK STOLLARZ - 2012 AFP
Nun ist das ja alles schön und gut, aber warum sollte es uns knapp vier Jahre nach dem Ende von Löws Amtszeit und gut sieben Jahre nach dem Karriereende von Pirlo noch interessieren?
Weil Julian Nagelsmann heute keinen vergleichbaren Fehler machen darf. Italien hat nämlich wieder einen Pirlo in den eigenen Reihen.
Seit Ende August 2024 ist Sandro Tonali von seiner 308-tägigen Sperre wegen illegaler Sportwetten zurück und spielt auch seit September wieder für die italienische Nationalmannschaft. Seine Profikarriere hat er 2017 - genau wie Pirlo 20 Jahre zuvor - in Brescia begonnen. Und wurde seitdem immer wieder mit ihm verglichen. Zwar kann man bei überdurchschnittlich fähigen, jungen Spielern stets die Uhr nach den Weltstar-Vergleichen stellen, im Fall von Tonali scheint da aber etwas dran zu sein. Zumindest wenn man seinem aktuellen Trainer glaubt.
"Als ich Sandro zum ersten Mal spielen sah, gab es eindeutige Verbindungen zu Pirlo, ohne Zweifel – und es sind nicht nur die Haare. Da steckt mehr dahinter", zitierte die ‘BBC’ Newcastle-Coach Eddie Howe im Dezember. Tonali hatte zu diesem Zeitpunkt gerade nach schwierigen Wochen seine Form wieder gefunden. Und zwar dank einer sehr bedeutenden Umstellung von Eddie Howe, der ihn zurück auf die Pirlo-Position geschoben hatte: Die alleinige Sechs vor der Abwehr.
📸 Michael Regan - 2024 Getty Images
In den Wochen zuvor wurde der 24-Jährige in Newcastles Dreiermittelfeld stets als rechter Achter eingesetzt, während Bruno Guimarães dahinter als Sechser das Zentrum besetzte. Beziehungsweise: eben nicht besetzte. Denn Guimarães Tendenz, sowohl bei eigenen Angriffen als auch im Gegenpressing die eigene Position zu verlassen, sorgte dafür, dass die Viererkette der Magpies immer wieder ungeschützt war und es oft keine verlässliche Anspielstation in der Zentrale gab. Howe erkannte das Problem und tauschte die beiden. Ein wirksamer Schachzug, weil Tonali mit pirlo’scher Lässigkeit auch in der temporeichen Premier League unter großem Druck seine Position hält, immer anspielbar ist und aus der Tiefe das Spiel dirigieren kann.
Wie gut er auf der Pirlo-Position funktioniert, zeigt sich auch darin, dass im Winter fast jedem Topklub inklusive dem FC Bayern ein Interesse an Tonali nachgesagt wurde. Aber zurück zu Julian Nagelsmann und dem nicht zu wiederholenden Löw-Fehler. Dass man ihm keinen Manndecker an die Fersen heften sollte, dürfte jetzt klar sein. Womöglich wäre sogar das Gegenteil angebracht.
Denn Tonalis größte Stärke, die pirlo’sche Lässigkeit, kann auch zu einer Schwäche werden. Wenngleich er im Positionsspiel genauso diszipliniert ist wie sein Vorbild und sich selten aus der Ruhe bringen lässt, ist der frühere Milan-Profi bisweilen ein wenig zu risikofreudig. Wenn er genug Platz hat, lässt er sich auch mal zu einem gewagteren Pass hinreißen oder hält den Ball zu lange. Wenn die DFB-Elf sich also eher auf Tonalis Anspielstationen konzentriert und dem Spielmacher womöglich zwischenzeitlich sogar etwas mehr Raum mit dem Ball am Fuß gewährt, könnte man ihn zu Fehlern zwingen.
Das Ziel muss jedenfalls sein, dass es heute Abend und am Sonntag für zwei Spiele mal nur die Haare sind, die an Andrea Pirlo erinnern.
📸 Timothy Rogers - 2024 Getty Images